VeranstaltungsberichtDer Nahostkonflikt als Katalysator für Antisemitismus

Aufnahme des Holocaust Denkmals in Berlin.
Die Veranstaltung fand online via Zoom statt

Polizeiliche und kommunale Wirkungskreise und Aufgabenfelder

„Israel-Hass reicht bis nach NRW“ – so titelte die Rheinische Post am 19. April 2024 zur Vorstellung des neuen Verfassungsschutzberichts NRW. Mit Blick auf das Jahr 2023 ragt der 7. Oktober mit den Terroranschlägen der unter anderem von der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuften und in Deutschland seit dem 2. November 2023 durch das Bundesinnenministerium (BMI) verbotenen Hamas gegen den Staat Israel heraus.

Im Bereich Antisemitismus haben die Sicherheitsbehörden in NRW im vergangenen Jahr 547 antisemitische Straftaten registriert – 65 % mehr als im Vorjahr. Der Bericht führt den Anstieg auf das hohe Aufkommen antisemitischer Straftaten seit den Terroranschlägen gegen den Staat Israel zurück.

NRW-Innenminister Herbert Reul hebt im Verfassungsschutzbericht hervor: „Extremisten haben sich zu Hass und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden vereint. Antisemitismus ist mit seiner hässlichen Fratze auf unsere Straßen zurückgekehrt. Extremisten verschiedener ideologischer Prägungen nutzten den Terroranschlag gegen den Staat Israel dazu, ihre Anhänger zu mobilisieren und scharfe Botschaften in noch kürzeren Frequenzen zu senden. Wir müssen jeden Antisemitismus im Keim ersticken und wo immer es geht, darüber aufklären.” (Pressemitteilung Landesregierung Nordrhein-Westfalen vom 18. April 2024).

Auch vor diesem Hintergrund hatte die HSPV NRW im Rahmen des Forums „Weltoffene Hochschulen“ zur Aufklärung über aktuelle Entwicklungstendenzen des Antisemitismus in NRW am 8. April 2024 die Veranstaltung „Der Nahostkonflikt als Katalysator für Antisemitismus – Polizeiliche und kommunale Wirkungskreise und Aufgaben“ angeboten. Studierende, Lehrende, polizeiliche und kommunale Mitarbeitende sowie HSPV-Verwaltungsangehörige nahmen an der von Dr. Sarah Jadwiga Jahn (HSPV NRW) moderierten Online-Veranstaltung teil. Ziel sei es, so Sarah Jahn, aus einer Sprachlosigkeit herauszukommen.

Vorträge

  • Völkerrechtliche Perspektiven auf den Nahostkonflikt legte Prof. Dr. Manuel Brunner (HSPV NRW) dar und informierte über die völkerrechtlichen Grundlagen des Staates Israel sowie über den völkerrechtlichen Status der palästinensischen Gebiete Westjordanland und Gazastreifen. Zu beobachten sei, dass politische Kommunikation und Rechtsgrundlagen oft auseinandergingen. Deshalb sei es umso wichtiger, die Verwendung von Begriffen und Zuschreibungen sowie Quellen von Äußerungen und Einschätzungen zu prüfen.
     
  • Einschätzungen zu den Auswirkungen des Hamas-Terrors und zu seinen Folgen auf Nordrhein-Westfalen lieferte Jörg Rensmann (Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Nordrhein-Westfalen, RIAS NRW). Mehr als doppelt so viele Vorfälle wie im ganzen Jahr 2023 seien seit Oktober gemeldet worden. In Deutschland und NRW sei für Jüdinnen und Juden Antisemitismus ein „alltagsprägendes Phänomen“. Antisemitismus müsse als gesamtgesellschaftliches Phänomen in allen Milieus begriffen werden.
     
  • Über Auswirkungen auf polizeiliche Wirkungskreise und Aufgabenfelder berichtete Thomas Bliß (Polizei NRW, Polizeipräsidium Duisburg, Staatsschutz). Wie geht man etwa mit Parolen auf Demonstrationen um? Zum Beispiel die Parole „From the River to the Sea, Palestine will be free“. Im Zuge des gehäuften Aufkommens der Parole bei Demonstrationen und Versammlungen wurde die bislang strafrechtlich nicht relevante Parole neu bewertet und als strafrechtlich relevant eingestuft (§§ 86, 86a StGB). Grundlage hierzu ist der Beschluss des BMI vom 2. November 2023, die Hamas als verbotene Vereinigung einzustufen (vgl. Pressemitteilung BMI vom 2. November 2023). Generell sei im öffentlichen Raum eine Zunahme von Antisemitismus, vor allem aus islamistischen und linksextremistischen Bereichen, festzustellen. Der Staatsschutz stelle sich auf diese Lage ein.
     
  • Welche Ansätze bieten kommunale Wirkungskreise und Aufgabenfelder? Andrea Ullrich (Stadt Dortmund) stellte hierzu die Koordinierungsstelle für Vielfalt, Toleranz und Demokratie der Stadt Dortmund vor. Diese Organisationseinheit ist direkt beim Oberbürgermeister angesiedelt, was in dieser Form noch einzigartig in NRW ist. Netzwerke in der Stadtgesellschaft koordinieren, Workshops für die städtischen Beschäftigten anbieten – die Aufgaben sind und bleiben vielfältig. Auch eine Grundsatzerklärung zur Bekämpfung von Antisemitismus in Dortmund wurde auf den Weg gebracht, unterzeichnet unter anderem von
    Oberbürgermeister Thomas Westphal und Polizeipräsident Gregor Lange. Die Koordinierungsstelle habe grundsätzlich alle Erscheinungsformen des Antisemitismus im Blick.
     
  • Das Thema von Dr. Alexander Friedmann, Hochschullehrer und Publizist, war der Antisemitismus in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023 aus jüdischen und israelischen Perspektiven. Vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen sowie anhand von antisemitischen Bedrohungen Betroffener wurde die Vielschichtigkeit des Themas deutlich. Er ging besonders auf den sogenannten israelbezogenen Antisemitismus mit seinen Erscheinungsformen ein, da dieser an Dominanz zugenommen habe. Alexander Friedmann stellte aber auch Bezüge zu anderen internationalen Themen her (zum Beispiel Ukraine-Krieg und Einfluss gezielter
    Propaganda auf Meinungsdiskurse in Deutschland). Sein Ausblick schloss eine „israelischen Prognose“ ein, die auch vermehrt in jüdischen Gemeinden in Deutschland zu hören sei: Dass es in Europa aufgrund der Entwicklungen zu vermehrten Auswanderungen jüdischer Menschen und zum Ende des sichtbar
    jüdischen Lebens kommen könnte.

Fazit

Im anschließenden Austausch diskutierten Beteiligte aus allen Bereichen über die Ansätze, die sich aus den Vorträgen für die weitere thematische Vertiefung an der HSPV NRW generieren ließen. Gerade von studentischer Seite wurde vielfach betont, dass es Platz für Austausch und Bildung zu aktuellen Themen und Entwicklungen brauche. So führte eine Studentin des Studiengangs Polizeivollzugsdienst an, dass sie sich nicht sprachfähig genug fühle, um gesellschaftlichen Konflikten „auf der Straße“ zu begegnen. Zur weiteren Vorgehensweise werden im Nachgang der Veranstaltung Vorschläge und Ideen aufbereitet und in einem weiteren Schritt gesondert thematisiert. Für Lehrende wird beispielsweise ein Infopool „Nahost“ in ILIAS eingerichtet. Zudem wird das Angebot der internen Weiterbildung um das Seminar „Jüdisches Leben und Antisemitismus als Querschnittsthemen in Polizei- und Verwaltungslehre“ erweitert.

Dabei zog sich die Frage, welche Antisemitismus-Definition die tragfähigste sei, durch mehrere Diskussionsbeiträge. Vielleicht lohnt in diesem Kontext ein Blick auf den Altmeister der Kritischen Theorie, Theodor W. Adorno. „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“ lautete ein Vortrag Adornos aus dem Jahre 1962 (im Februar 2024 neu aufgelegt im Suhrkamp-Verlag mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma). Antisemitismus beruht nach Adorno nicht auf Erfahrungen und Tatsachen – er ist vielmehr ein „Gerücht über die Juden“, wie er es nennt, und daher so schwer zu bekämpfen. Denn wer sich auf antisemitische „Argumente“ einlasse, so Adorno, habe bereits verloren: Weil Antisemitismus keine Meinung sei, die rational begründet werden könnte, sondern ein Affekt, gegen den man mit Argumenten nicht ankomme.

Was also tun? Adornos Antwort ist klar: Antisemitismus muss man nicht widerlegen, sondern bekämpfen – mit der Autorität und notfalls mit der Gewalt, die der Staat hat.